Agrothermie: Wärme aus dem Acker
Von Klaus W. König
(Quelle:Moderne Gebäudetechnik, 5/2017)
Diese regenerative Technik zählt zu den oberflächennahen Methoden der Erdwärmegewinnung. Sie versorgt eine Plusenergie-Neubausiedlung und sie hat eine soziale Komponente: Ein Teil des Entgelts für die Niedertemperaturwärme aus dem Acker ist ein zusätzliches Einkommen für Landwirte.
Wüstenrot mit rund 6.600 Einwohnern liegt im Süden des Landkreises Heilbronn und besteht aus fünf Teilorten. Die Gemeinde, in der 1921 die Idee der Bausparkasse geboren wurde, entwickelt nun den Modellfall der Plusenergiegemeinde – und ist in dieser Sache schon sehr weit gekommen. Thomas Löffelhardt, technischer Leiter und Energiebeauftragter der Gemeinde Wüstenrot, hat im Jahr 2009 erste Gedanken auf einem Bierdeckel skizziert: Energie aus der und für die Gemeinde, kommunale Vorbildfunktion, marktunabhängige Energiepreise, Stärkung der heimischen Wirtschaft.
Agrothermie speist Kaltwärmenetz
Es ging zunächst um die geothermische Nutzung von 1,5 ha Ackerboden für die 23 Wohnhäuser umfassende Plusenergie-Mustersiedlung „Vordere Viehweide II“. Seit 2012 sind die fertiggestellten Gebäude nach und nach an das Kaltwärme-
netz angeschlossen worden. Sinn der Agrothermie ist, landwirtschaftlich genutzte Flächen in der Nähe einer Neubausiedlung thermisch als Bodenkollektoren zu erschließen. Hierzu werden Rohrleitungen in einem Abstand von 0,5 bis 1 m parallel in ca. 2 m Tiefe mit einem Spezialpflug in der Erde verlegt. Durch dieses Verfahren bleibt die Bodenschichtung erhalten und die Leitungen befinden sich weit unter dem Wurzelhorizont der Pflanzen. Daher sind keine Einbußen im landwirtschaftlichen Ertrag zu erwarten. Jens Kluge mit seiner Firma Doppelacker aus Petershagen/Brandenburg hat die Technologie und das Verfahren dazu entwickelt. Er bekam im Jahr 2012 im Rahmen des Forschungsprojekts den Auftrag, die zur Erschließung des neuen Wohngebiets in Wüstenrot erforderliche Bodenbearbeitung von angrenzenden Wiesen und Äckern zu planen und umzusetzen. Deren Eigentümer erhalten als finanziellen Ausgleich jedes Jahr etwa ein Drittel des Grundstückswerts der so zusätzlich genutzten landwirtschaftlichen Flächen. Konventionelle Wärmenetze liefern Fernwärme von Kraftwerken für Siedlungen, Handwerk und Industrie, meist Abwärme mit hoher Temperatur aus der Stromproduktion. Die Energieverluste auf den viele Kilometer langen Strecken sind entsprechend groß. Im Gegensatz dazu stellt das Kaltwärmenetz ganzjährig die über den Agrothermiekollektor gewonnene Erdwärme zur Verfügung. Diese technische Anordnung erlaubt es, die Zirkulation des Mediums bedarfsorientiert durch die einzelnen Wärmepumpen ein- und auszuschalten. Das Kaltwärmenetz muss nicht permanent umgewälzt werden, da die Bodentemperatur auch bei dessen Stillstand weiter zur Verfügung steht. Erst in den Häusern der Nutzer wird per Wärmepumpe effizient die geforderte Systemtemperatur erzeugt, Netzverluste fallen dabei nicht an. Heiz- und Kühlanwendungen können unabhängig voneinander betrieben werden. Die Aufnahme von industrieller Abwärme ist technisch und zeitentkoppelt (entsprechend den jeweiligen Kundenanforderungen) möglich. Pufferspeicher für Heizung und Warmwasser sind Teil des Systems, um eine schonende Betriebsweise der Wärmepumpe mit wenigen Ein- und Ausschaltvorgängen zu ermöglichen und kurzzeitigen Spitzenbedarf abzudecken.
Photovoltaik versorgt Wärmepumpe in jedem Haus
Die Wohnhäuser im Baugebiet „Vordere Viehweide II“ bekommen die benötigte Niedertemperaturwärme für Heizung und Warmwasser aus dem Kaltwärmenetz. Statt Brennstofflager, Heizkessel und Schornstein benötigen sie nur eine Wärmepumpe. Diese kann mit Hilfe von elektrischem Strom dem Wasser-Glykol-Gemisch, das mit durchschnittlich 8 °C zwischen Ackerboden und Wohnhäusern bereit steht, einige Kelvin Temperaturdifferenz entziehen und daraus z. B. die
Fußbodenheizung und das Duschwasser erwärmen. Im Sommer lassen sich die Gebäude direkt aus dem Kaltwärmenetz auf hoch Energie sparende sowie natürliche Art kühlen. Das Prinzip der Wärmepumpe funktioniert hier besonders wirtschaftlich und Umwelt schonend, weil Strom sparend. Voraussetzung dafür ist, dass das Wärmenetz bereits einige Wärmegrade liefert und die daraus erzeugte Heiztemperatur rasch erreicht ist. Wird der für die Wärmepumpe und den Haushalt benötigte Strom nicht aus dem öffentlichen Netz bezogen, sondern über die eigene Photovoltaik(PV)-Anlage erzeugt, ist das ökologisch perfekt. Und Perfektion gehört zum Plan der Gemeinde Wüstenrot, um aus dem Neubaugebiet einen Energieüberschuss zu erwirtschaften.
Wüstenrot wird Plusenergie-Kommune im Jahr 2020
Thomas Löffelhardt gelang es, mit Hilfe seines Beraters Dirk Storz und dessen Firma „die Erneuerbaren“ den richtigen Partner aus der Wissenschaft zu finden: Dr. Dirk Pietruschka, Geschäftsführer des Instituts für Angewandte Forschung an der
Hochschule für Technik (HFT) in Stuttgart. Er schuf für das Projekt einen erweiterten Rahmen und eine wissenschaftliche Basis, wodurch Wüstenrot auch in Expertenkreisen zu einer „Vorreiter“-Gemeinde werden und öffentliche Förderung erhalten sollte. Erste Etappe des ehrgeizigen Vorhabens war die Plusenergiesiedlung, deren wissenschaftliche Umsetzung Pietruschka übernommen hat. Für die Realisierung im Baugebiet „Vordere Viehweide II“ war erforderlich, dass
• die Grundstückskäufer dem Bau einer PV-Anlage mit Mindestgröße auf ihrem Haus zustimmen,
• einige der Wohnhäuser mit Stromspeichergeräten neuester Bauart (im Rahmen des Forschungsvorhabens kostenfrei) ausgestattet werden, um die zeitliche Phasenverschiebung zwischen Stromgewinnung und Strombedarf teilweise auszugleichen,
• die Wohnhäuser als KfW Effizienzhaus 55 mit einem maximalen jährlichen Wärmebedarf von 55 kWh/m² gebaut werden, d. h. 45 % weniger Primärenergie benötigen als ein vergleichbarer konventioneller Neubau.
Die Idee geht weit über das Baugebiet „Vordere Viehweide II“ als Plusenergiesiedlung hinaus. Das zweite Etappenziel ist, den Weg der Gemeinde bis zur Plusenergie-Kommune Wüstenrot im Jahr 2020 zu entwickeln. Ohne den Initiator Thomas
Löffelhardt sowie seine Motivation und Bereitschaft, viel Freizeit einem besonderen Zweck zu opfern, wäre es nicht soweit gekommen. „Von mir stecken über 500 unbezahlte Arbeitsstunden in diesem Projekt“, so Löffelhardt. „Doch ausschlaggebend war, dass Gemeinderäte und Bürgermeister mutig die Innovationen gut geheißen und mir sowie meinen externen Beratern vertraut haben“. Eine der Ideen war der Erwerb des Stromnetzes vom überregionalen Energiekonzern
EnBW durch die zu diesem Zweck gegründete Energieversorgung Mainhardt Wüstenrot (emw). Daran sind zwei Nachbargemeinden und als technischer Partner der regionale Energieversorger Stadtwerke Schwäbisch Hall beteiligt. Die Netzübernahme erfolgte im Juni 2012. Dann ging es, von der HFT Stuttgart gesteuert, mit riesigen Schritten vorwärts.
Wissenschaftliches Vorgehen sichert Forschungsgelder
Dirk Pietruschka ist verantwortlich für den beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie im Förderbereich EnEff:Stadt und EnEff:Wärme mit Erfolg eingereichten Forschungsantrag „Entwicklung der Gesamtstrategie der Gemeinde in Richtung
Plusenergie und Umsetzung einer innovativen kalten Nahwärmeversorgung in der geplanten Plusenergiesiedlung“. Seit Juli 2012 gab es daraufhin von der Bundesregierung Fördermittel in Höhe von insgesamt mehr als 3,5 Mio. €. Nach Abschluss der Bebauung der Plusenergie-Mustersiedlung im Jahr 2017 werden noch bis 2019 zehn Häuser, das Kaltwärmenetz und die Agrothermiefläche zur Evaluierung intensiv vermessen und analysiert. Dies wird Aufschluss geben über die Effizienz der Siedlung in verschiedenen Betriebszuständen. Das Forscherteam hat im Januar 2017 grünes Licht für ein Anschlussprojekt bekommen. Eine der Aufgaben ist, die intelligente Steuerung für die Plusenergiesiedlung in ein virtuelles Kraftwerk der Stadtwerke Schwäbisch Hall zu integrieren. Die nachhaltige Energieerzeugung in Wüstenrot und andere flexible regionale Stromerzeuger und Verbraucher (z. B. Gewerbekunden der Stadtwerke) netzdienlich zu verknüpfen, ist ein weiteres Thema. Dann geht es noch um modular ausbaubare nachhaltige Wärmenetze für den ländlichen Raum. Das neue Vorhaben läuft bis Ende 2019 und wird vom Bundeswirtschaftsministerium mit weiteren rund 1,2 Mio. € unterstützt.
Regionale Wertschöpfung garantiert stabile Preise
Vor dem Start des Projekts Plusenergiegemeinde flossen von den Haushalten der ca. 6.600 Einwohner Wüstenrots zusammen jährlich etwa 2,9 Mio. € für Strom und ca. 2,3 Mio. € für Wärme ab. Ein Teil dieser Ausgaben wird nach Auffassung
von Thomas Löffelhardt als Wertschöpfung in der Kommune, genauer gesagt in der Kasse des lokalen gemeindeeigenen Stromversorgers emw bleiben, der wiederum lokal investiert und neue Arbeitsplätze schafft. Möglich ist das nun, da Wüstenrot mit Unterstützung der Bürger bis 2020 voraussichtlich Plusenergiegemeinde sein wird – und danach sogar einen profitablen Energieüberschuss anstrebt. Dass der eingeschlagene Weg zum Erfolg führt und sich das Vorhaben für Wüstenrot finanziell auszahlen wird, ist sicher. Die 2009 unter Bürgermeister Heinz Nägele mutig in das Projekt investierten 150.000 € haben inzwischen ein Mehrfaches an Gegenwert gebracht. Die Smart-Grid-Plattform Baden-Württemberg e. V. vergab 2015 den Quartiers-Award an Wüstenrot als Anerkennung für das zukunftweisende Energiekonzept. Wertschöpfung und neue Arbeitsplätze im Handwerk werden aus den damit verbundenen Maßnahmen resultieren. Außerdem, und davon profitieren alle Einwohner, stellt die Gemeinde nachhaltig erzeugte Energie zur Verfügung, die nicht den Preisschwankungen des internationalen Energiehandels unterliegt.